"Wahrscheinlich Alkoholiker"

Ich weiß, es klingt komisch - aber Alkoholprobleme brauchen mehr Sexappeal.

"Also, wenn man nach diesen ganzen Richtlinien geht, bin ich wahrscheinlich auch Alkoholiker" - "Technisch gesehen bin ich bestimmt auch Alkoholikerin" - diese oder ähnliche Sätze habe ich gefühlt schon tausendmal gehört. Oder, von den ganz selbstkritischen: "Ich bin auch Alkoholikerin."

Vorgetragen werden sie eigentlich immer auf die gleiche Weise: Der- oder diejenige, die den Satz sagt schaut dabei angestrengt ernst, damit das ob diesem Thema gebotene notwendige Maß an Selbstreflexion auch nicht übersehen werden kann. Fast unmerklich wird das "auch", dass bei diesem Satz wirklich nie vergessen wird, allerdings etwas deutlicher ausgesprochen, die Stimme geht ein wenig hoch, und dieses kleine Detail ist eigentlich das Wichtigste dabei, denn es bedeutet zum einen, dass man sich zu einer großen Gruppe zugehörig fühlt, einer Gruppe von Leuten, die eigentlich ganz cool sind - denn irgendwie sind wir ja alle Alkoholiker, oder? Also, zumindest die coolen Partypeople, mit denen feiern auch Bock macht, ach, mit denen man überhaupt feiern kann. Denn das andere, was dieses kleine "auch" zum Ausdruck bringt, ist, dass der Sprecher diese absurden Kriterien, die definieren, was ein Alkoholproblem denn nun ist, kein bisschen ernst nimmt. Anders gesagt: Wenn jeder, auf den diese Kriterien zuträfen, Alkoholiker wäre, dann wären das ja im Prinzip alle (meine Freunde / die ich kenne / Leute, mit denen man ordentlich einen heben kann). Und da das absolut nicht sein kann (oder die Vorstellung den Betroffenen eben unangenehm berührt) sind die Kriterien halt Unfug. So weit, so nachvollziehbar.

Das könnte mir natürlich völlig egal sein. Was mich daran ärgert (oder mir, bei genauerem Darübernachdenken, etwas Angst macht) ist, wie perfide subtil diese pseudoselbstkritische Verdrängung ist und wie schwer sie es Betroffenen macht, für sich eine belastbare Wahrheit zu erkennen. Wenn selbst Alkoholprobleme ironisch gebrochen sind, wird es verdammt schwer, ein echtes zu haben.

Hand in Hand damit geht der Umstand, dass man mit der Offenbarung des eigenen Problems auf eher wenig Verständnis stößt - bis hin zu dem Hinweis "Siehst Du? Wenn Du es schaffst, aufzuhören, hast Du doch kein Problem, das ist der Beweis!" Gute Nachrichten für alle trockenen Alkoholiker: Wir können endlich wieder alle anfangen zu saufen!

So lange bleiben wir dann erst einmal bei der weit verbreiteten Überzeugung, dass echte Probleme erst da anfangen, wo der Arbeitsplatz verloren, die Beziehung gescheitert und die Wohnung verwahrlost ist. Dann darf der Patient auch endlich in den Entzug, inklusive krachharten Entzugserscheinungen und täglichen Meetings, die er mit blutunterlaufenen Augen und roter Trinkernase besucht. Dort rauchen dann auch alle Kette, kennt man ja aus dem Fernsehen. Wir alle kennen zwar den Begriff des funktionierenden Alkoholikers und vom etwas altertümlich klingenden Quartalstrinker (heutzutage müsste man vielleicht eher Wochenendalkoholiker sagen) wissen wir auch, das Alkoholismus nicht ausschließlich auf tägliches Spiegeltrinken eingegrenzt ist. Aber nun, wer hätte gedacht, dass Alkoholiker SO GUT funktionieren können? Sich nicht nur mit der Tageszeitung vor dem Gesicht, um die Fahne vor den Kollegen abzuschirmen, in ihren Büros verstecken, sondern dort Führungspositionen haben, erfolgreiche Männer und Frauen sind, zum Sport gehen, die Kinder von der Schule abholen, gesundes Essen kochen und die Wohnung sauber halten? Wann zur Hölle sind Alkoholiker so fitte Typen geworden?!

So lange wir also nicht offen darüber reden, dass man sich vielleicht doch fragt, ob es noch im Rahmen ist, wenn die Flasche Rotwein jeden Abend leer wird, oder dass man sich Sorgen macht, weil man schon wieder nicht weiß, wie der letzte Samstagabend zu Ende gegangen ist, wird sich an unserem Bild von Alkoholismus überhaupt nichts ändern. Vielleicht brauchen wir auch neue Worte. Ich verstehe das, ich bin auch kein Fan des A-Wortes. Vielleicht "problematisches Trinken"? Ich weiß nicht, ob das schicker ist als "Alkoholproblem". Was ich aber ziemlich sicher weiß, ist dass ziemlich viele Leute mit ihrer Einschätzung, "wahrscheinlich Alkoholiker" zu sein, wahrscheinlich gar nicht so falsch liegen. Und sie dürfen sich einer ziemlich großen Gruppe zugehörig fühlen: Eine Gruppe von Leuten, von denen viele eigentlich ganz cool sind.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die Liste: 7 Neins und ein großes Ja

Nachdenken

Über Partys und Abenteuer